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12.09.2017
Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information – eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung (OBS) der IG Metall

Vorwort:

Nach der Politik der Westintegration in der Adenauer-Ära, der Ostpolitik Willy Brandts in den 1970er Jahren und der friedlichen Überwindung der staatlichen Teilung in der Regierungszeit von Helmut Kohl stellt die Flüchtlingspolitik Angela Merkels 2015/16 für viele Beobachter eine weitere prägende Weichenstellung in der bundesrepublikanischen Geschichte dar. Die Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge hat gesellschaftspolitisch erheblich polarisiert: Soziales Engagement in der Zivilgesellschaft und die spontane Hilfsbereitschaft vieler Menschen beschreiben die eine Seite – massive Distanz und teilweise auch aggressive Ablehnung der Geflüchteten stehen für eine andere, „dunkle“ Seite. Innenpolitisch hat die Flüchtlingspolitik u. a. den rasanten Aufstieg einer rechtspopulistischen Protestpartei begünstigt – außenpolitisch hat das „einseitige“ Vorgehen Angela Merkels eine europäische Verständigung und den weiteren Integrationsprozess einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt.

Manche zeitgenössischen Beobachter sehen in den wenigen entscheidenden Tage im September 2015 gar einen epochalen Einschnitt: Gesprochen und geschrieben wird von einer Zeitenwende – der Zeit vor und der Zeit nach der „Grenzöffnung“. Schon lange bevor die „Flüchtlingsproblematik“ die innenpolitische Agenda zu bestimmen begann, sahen sich Teile der Medien mit einem Vertrauensverlust seitens des Publikums und einer veritablen Glaubwürdigkeitskrise konfrontiert. „Lügenpresse“ wurde 2015 „Unwort des Jahres“, der öffentlich-rechtliche Rundfunk wie auch etablierte Printmedien standen massiv in der Kritik, und die weit verbreitete Skepsis gegenüber Establishment und Eliten schloss explizit auch Medienmacher und journalistisch Tätige mit ein. In dieser Gemengelage von Politikverdruss und Medienfrust geriet die Berichterstattung über die Flüchtlingspolitik schnell ins Visier kritischer Betrachtungen. Später waren auch selbstkritische Töne aus dem Medienbetrieb zu vernehmen und kreisten beispielsweise um die Frage, ob Medien in der sogenannten Flüchtlingskrise von der Rolle des kritischen Beobachters in die des politischen Akteurs gewechselt seien.

Aktuelle medienkritische Studien und medienpolitische Untersuchungen gehören seit Jahren zum publizistischen Profil der Otto Brenner Stiftung. Die Ergebnisse unserer Forschungsförderung stießen dabei immer wieder auf erstaunlich große
öffentliche Aufmerksamkeit. Zuweilen war die Anerkennung unserer Arbeit aber nicht mit ungeteilter inhaltlicher Zustimmung verbunden, hin und wieder wurden wir sogar durch „Beifall von der falschen Seite“ überrascht bis irritiert. Dass die „Flüchtlingskrise“ und die Berichterstattung über Angela Merkels Flüchtlingspolitik ein gesellschaftspolitisches Megathema ist, das, wenn es nicht zum Streit einlädt, dann doch sicher für hitzige Diskussionen sorgen würde, war der Stiftung bewusst, als wir entschieden, uns diesem Thema ausführlicher zu widmen. Wir sind deshalb dankbar, dass wir die Untersuchung gemeinsam mit dem weit über enge Fachgrenzen hinaus renommierten sowie international profilierten Wissenschaftler Professor Dr. Michael Haller auf den Weg bringen konnten.

Die Studie geht erstmals der Berichterstattung zur sogenannten Flüchtlingskrise im Detail nach: Dazu wurden insgesamt weit über 30.000 Medienberichte erfasst – und insbesondere für einen gut zwanzigwöchigen Zeitraum, in dem sich im Jahr 2015 die Ereignisse überschlugen, rund 1.700 Texte analytisch ausgewertet. Im Fokus der innovativen Untersuchung stehen Printleitmedien wie FAZ, SZ, Welt und Bild, über achtzig verschiedene Lokal- und Regionalzeitungen sowie die reichweitestarken Onlinemedien focus.de, tagesschau.de und Spiegel Online. Michael Haller geht in seiner Pionierarbeit einer Reihe wichtiger Fragen nach: Wurde in den analysierten Medien neutral über die Ereignisse berichtet? Trug die mediale Berichterstattung zu einer gesamtgesellschaftlichen Erörterung und Verständigung über eine allgemein gewollte Form der Willkommenskultur bei? Sind die veröffentlichten meinungsbetonten Formate ein Beispiel für etablierten Meinungspluralismus, oder bilden sie das allgemeine Meinungsbild eher einseitig ab? Wer kam überhaupt in der Berichterstattung zu Wort – vornehmlich regierungsnahe Stimmen oder auch die direkt Betroffenen, also Geflüchtete oder engagierte Freiwillige selbst?

Auf diese und weitere Fragen gibt die Untersuchung vielfältige Antworten. Durchaus spannende Antworten, die, im Gegensatz zu vielen öffentlich geäußerten Mutmaßungen oder vorschnellen Urteilen, auf einer intensiven Auseinandersetzung mit Quellen aufbauen und auf der kritischen Analyse breiter Daten fußen. Aber es kristallisieren sich in der Untersuchung auch Befunde heraus, die für weitere Diskussionen sorgen werden. Angesichts der historischen Relevanz von Angela Merkels Flüchtlingspolitik 2015/16 bleibt aus Sicht der OBS eine genaue Betrachtung von Rolle, Funktion und Selbstverständnis der Medien in dieser Phase unerlässlich. Wir hoffen, dass unsere Studie dazu einen ebenso kritischen wie konstruktiven Beitrag leistet, der zu kontroversen Debatten einlädt und zu weiteren Forschungen motiviert.

Jupp Legrand
Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung          Frankfurt am Main, im Juni 2017

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