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21.07.2020
DIW: Niedriglohnsektor ist Sackgasse statt Sprungbrett

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat die Auswirkungen der Hartz-Gesetze analysiert – Entgegen der Ankündigungen erweist sich Niedriglohnsektor als großer Flop

Rund 7,7 Millionen Menschen und damit mehr als ein Fünftel aller abhängig Beschäftigten in Deutschland verdienten 2018 weniger als 11,40 Euro brutto pro Stunde und arbeiteten damit im Niedriglohnsektor.

Ein großer Teil der schlecht bezahlten Beschäftigten erhielt sogar weniger als den gesetzlichen Mindestlohn. Seit den 1990er Jahren ist Deutschlands Niedriglohnsektor um gut 60 Prozent gewachsen. In keinem anderen europäischen Land mit vergleichbarer Wirtschaftsleistung nimmt der Niedriglohnsektor ein solches Ausmaß an. Inzwischen haben einige Branchen ihr Geschäftsmodell auf niedrigen Löhnen aufgebaut. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie des DIW Econ, einer Tochter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung.

Nur wenigen Beschäftigten gelingt Aufstieg aus Niedriglohnsektor

Die für neoliberale, also marktradikale Positionen bekannte Bertelsmann-Stiftung kommt zu einem überraschenden Ergebnis: Der Niedriglohnsektor ist eine Sackgasse und kein Sprungbrett in den regulären, gut bezahlten Arbeitsmarkt. Zwar half die Ausweitung von Billiglöhnen über die Hartz-Gesetze der rot-grünen Bundesregierung seit dem Jahr 2004 ("Agenda 2010"), Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte in Arbeit zu bringen. Doch entpuppt sich dieser Sektor heute für viele Beschäftigte als Sackgasse. Immer mehr Beschäftigte erhalten auch für mittel- bis hochqualifizierte Tätigkeiten nur einen Niedriglohn. Ihre Zahl ist seit Mitte der 1990er Jahre um knapp eine Million auf über drei Millionen angewachsen. Dies entspricht rund 40 Prozent aller Niedriglohnbeschäftigten.

Nur gut einem Viertel aller Geringentlohnten gelingt der Aufstieg, während die Hälfte über mehrere Jahre im Niedriglohnsektor verharrt. Dabei beeinflussen Geschlecht, Qualifikation und Alter der Erwerbstätigen nicht nur, wie häufig sie zu Niedriglöhnen arbeiten, sondern auch wie groß ihre Aufstiegschancen sind. So werden Frauen wesentlich häufiger als Männer schlecht bezahlt. Während 2018 rund 28 Prozent der erwerbstätigen Frauen zu Niedriglöhnen arbeiteten, taten dies lediglich 16 Prozent der Männer. Insgesamt sind Frauen mit 61 Prozent aller Niedriglohnbeschäftigten überrepräsentiert. Ihnen gelingt auch seltener als Männern der Aufstieg in bessere Bezahlung (25 gegenüber 32 Prozent). In Berufen, die eine hohe Qualifikation erfordern, schafften es zuletzt 60 Prozent der Beschäftigten innerhalb von vier Jahren über die Niedriglohnschwelle. Bei einfachen und mittleren Tätigkeiten lag der Anteil lediglich bei 31 beziehungsweise 22 Prozent.

Corona-Krise offenbart Schattenseiten des Niedriglohnsektors

"Die Corona-Krise verstärkt die Probleme des Niedriglohnsektors – vor allem für Minijobberinnen und Minijobber. Ohne das Sicherheitsnetz des Kurzarbeitergeldes erleiden sie als erste Einkommenseinbußen oder verlieren ihre Arbeit", analysiert Dräger die aktuelle Situation. Besonders prekär ist die Lage von Beschäftigten, bei denen der Minijob den Haupterwerb darstellt – rund drei Viertel von ihnen verdienten 2018 weniger als 11,40 Euro pro Stunde und ein Aufstieg aus dem Niedriglohn gelang ihnen nur halb so häufig wie Vollzeitbeschäftigten. Sie haben keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld und der drastische Beschäftigungsrückgang bei dieser Gruppe von bereits 4,6 Prozent im März 2020 im Vergleich zum Vorjahresmonat zeigt: Insbesondere für Haushalte mit niedrigen Einkommen bricht derzeit ein erheblicher Teil des verfügbaren Einkommens weg. Soll der deutsche Arbeitsmarkt krisenfester werden, gilt es auch schlecht abgesicherte Beschäftigungsformen, wie die Minijobs, zurückzudrängen.

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