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15.10.2020
Hans-Böckler-Stiftung: Rente ist trotz Corona nicht in der Krise!

Rentenanpassungen ausbremsen wegen Corona? Modellrechnungen, die dramatisch steigende Beitragssätze und Bundeszuschüsse vorhersagen, sind in vielen Punkten unzulässig verkürzt. Eine differenzierte Betrachtung in der Rezession

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung nimmt Stellung zur Diskussion um Rentenkürzungen wegen Corona:

Die Maßnahmen zur Eindämmung der SARS-CoV2-Pandemie in Deutschland und den meisten Ländern der Welt hinterlassen tiefe Spuren in der Wirtschaft. Für Deutschland gehen die sogenannten Wirtschaftsweisen von einer tiefen Rezession aus. Sie erwarten einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 6,5 Prozent und der Bruttolohn- und Gehaltssumme um 1,8 Prozent. Welche Auswirkungen dies auf den Staat und die Sozialversicherungen haben wird, wird bereits diskutiert. In den letzten Wochen erschienen mehrere Kurz-Studien und Meldungen, die auf Basis von Modellrechnungen große finanziellen Probleme der Rentenversicherung und Unwuchten zu Gunsten der Rentnerinnen und Rentner prognostizierten. Was ist dran an diesen Berechnungen und den damit verbundenen Forderungen?

Den Nachholfaktor reaktivieren?

Gefordert wird als Krisenmaßnahme, den Nachholfaktor zu reaktivieren (IW-Studie, siehe auch Beitrag in der SZ). Der Nachholfaktor – eigentlich: Ausgleichsbedarf – ist eine Regelung zum schrittweisen Realisieren einer nicht durchgeführten Rentensenkung durch geringere Rentensteigerungen. Dabei wird auch berichtet, dieser sei 2018 mit dem RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz (der sogenannte Rentenpakt) heimlich ausgesetzt und unzureichend darüber informiert worden. Eine besondere Heimlichkeit ist aber nicht zu erkennen. Die Änderung ist im Gesetzentwurf zu finden und wird in der Gesetzesbegründung erläutert.

Unabhängig davon entspricht es Sinn und Zweck des Gesetzes, bis 2025 kein Ausgleichsbedarf zu ermitteln. Bis 2025 ist ein Rentenniveau von mindestens 48 Prozent durch eine Schutzklausel garantiert. Den Nachholfaktor auszusetzen, erhöht das Rentenniveau für alle künftigen Generationen – verglichen mit dem Szenario ohne die Niveauschutzklausel. Daran ändert sich nichts, wenn die Änderung heimlich erfolgt wäre. Sie bliebe dennoch sinnvoll und notwendig. Den Nachholfaktor zu reaktivieren bedeutet, das Rentenniveau von 48 Prozent bis 2025 zu sichern, nur um es ab 2026 für künftige Generationen stärker abzusenken – verglichen mit dem Szenario eines ausgesetzten Nachholfaktors. Mittelfristig macht es aber kaum einen Unterschied, wenn der Nachholfaktor reaktiviert würde, wie Johannes Steffen in einer Untersuchung gezeigt hat – kurzfristig aber sehr wohl.

Rentnerinnen und Rentner werden an den Folgen der Corona-Krise beteiligt

Einige Studien kommen zu dem Ergebnis, dass die Corona-Krise vor allem die Beschäftigten belasten würde, während die Rentnerinnen und Rentner nicht an den Kosten beteiligt würden, und bewerten dies als „stark asymmetrisch zugunsten der Rentenempfänger“. Es ist nicht unplausibel, dass das Rentenniveau im Jahr 2021 steigt. Der Hintergrund ist komplex und das Ergebnis sozialpolitisch keineswegs eindeutig. Wie sich die Corona-Krise auswirken wird, hängt maßgeblich davon ab, wie die Unternehmen auf die Krise reagieren. Entlassen die Unternehmen die Beschäftigten und nutzen die Kurzarbeit kaum, dann wird das Rentenniveau nächstes Jahr nicht steigen – eher sogar auf 48 Prozent sinken. Sollten die Unternehmen das Instrument der Kurzarbeit massiv nutzen – wonach es aussieht –, dann käme es voraussichtlich zu dem angedeuteten Effekt eines Rentenniveausprungs (ohne Rentenerhöhung).

Wie es ab 2022 weitergeht, ist aktuell noch schwerer abzuschätzen. Dies hängt neben den Fragen, wie die Krise sich dieses Jahr auswirkt, insbesondere auch von der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung im nächsten Jahr ab. Klar ist aber: So oder so ist ab 2022 mit mehreren, sich überlagernden Effekten zu rechnen, so dass größere Schwankungen zu erwarten sind. Die absehbaren Effekte werden aber das Rentensystem nicht aus dem Gleichgewicht werfen. Vielmehr wird sich das System auch unter veränderten Bedingungen auf einen neuen Pfad aus Beitragssatz, Rentenwert und Rentenniveau einpendeln.

Anstieg des Beitragssatzes und der Bundesmittel zunächst nicht zu erwarten

Behauptet wird, aufgrund der Krise könnten Beitragssatz und der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung schon sehr bald stark steigen. Börsch-Supan und Rausch kommen sogar zum Ergebnis: „außer in den Fällen einer relativ milden bzw. kurzen Rezession wird schon in 2021 die Haltelinie von 20% erreicht […]“ (vgl. verlinkte Quelle oben). Eine solche Entwicklung ist bei genauer Betrachtung jedoch nicht realistisch. Mit Einnahmerückgängen ist sicher zu rechnen. Wie groß diese ausfallen, hängt natürlich von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ab. Ein Anstieg des Beitragssatzes und der Bundesmittel aufgrund der Beitragssatzgarantie schon zum Januar 2021 würde aber drastische Einnahmeausfälle erfordern. Aktuell liegen die Einnahmen für 2020 von Januar bis einschließlich Mai über den Vorjahreswerten – auch die Einnahmen aus Erwerbstätigkeit sind leicht gestiegen. Eine Beitragssatzerhöhung in einem oder zwei Jahren ist aktuell nicht absehbar.

Wie sieht es beim deutschen Rentensystem mittelfristig aus?

Die mittelfristige Perspektive hängt von der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung ab. Kommen wir gut und rasch aus der Krise und die Kurzarbeitenden gehen bis 2021 wieder „voll“ an ihren Arbeitsplatz zurück, würden die Beitragseinnahmen wieder spürbar steigen. Die finanzielle Situation würde sich dann aufgrund der ausfallenden Rentenanpassung 2021 sogar vorübergehend entspannen. Die Finanzierung wäre dann auch ab 2022 ohne erhebliche Abweichungen vom bisherigen Pfad gesichert. Es würde sich ein neues, leicht verschobenes Gleichgewicht bis 2025 einstellen. Eventuell wird dann der Beitragssatz wie bisher erwartet im Jahr 2024, dafür aber etwas stärker, steigen – aber auch nicht auf 20 Prozent.

Die Berechnungen über Milliardenbeträge bilden die Basis für mediale Schockmeldungen, welche dann mit Forderungen für weitere Leistungskürzungen verbunden werden. Die Berechnungen zeichnen jedoch ein unvollständiges Bild und verkürzen in wesentlichen Punkten unzulässig. Die vorgeschlagenen Maßnahmen entlasten dabei weder „die Jungen“ noch die Beitragszahlenden. Geringere Renten bezahlen die Beschäftigten letztlich durch mehr private Vorsorge selbst. Und von einem langfristig geringeren Rentenniveau wären die heute jungen Menschen betroffen. Leistungskürzungen bei der gesetzlichen Renten sparen aber den Arbeitgebern ihren Anteil zur Rentenversicherung und erhöhen den Profit. Auch die Corona-Krise erzeugt also keinen Konflikt zwischen „den Alten“ und „den Jungen“, sondern zeigt den Verteilungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit.

Krise erfordert Antworten auf die Verteilungsfrage Deutsches Rentensystem ist zukunftsfähig

Natürlich muss und soll die Politik die wirtschaftliche und soziale Entwicklung immer im Blick haben und entsprechende Anpassungen vornehmen. Genau diese Anpassungsfähigkeit ist, neben der allgemeinen hohen Leistungsfähigkeit, eine der zentralen Stärken der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung. Sie ist damit den kapitalgedeckten Systemen strukturell weit überlegen. Einen Anpassungsmechanismus zu fordern, der die Leistungen so kürzt, dass ein festgelegter Beitragssatz eingehalten wird, verlagert die Risiken der Alterssicherung aber schlicht in die Zukunft und auf die heute jungen Beschäftigten. Eine ausgewogene Sozialpolitik muss immer den Ausgleich heute wie auch in Zukunft im Blick haben.

Die Beschäftigten wie auch die Rentnerinnen und Rentner können gerade in der Krise auf die Solidität der Rentenversicherung vertrauen. Statt Generationenkonflikt und weitere Kürzungen gilt es die Solidarität zu stärken und zu fördern. Dies ist mit sachlichen Argumenten zu belegen, ohne die Herausforderung durch die Corona-Krise klein zu reden. Dabei zeigt gerade die Krise wieder, wie unbezahlbar starke Sozialversicherungen sind – für die Wirtschaft wie für die Beschäftigten.

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