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12.02.2018
Mindestlohn: 2,7 Millionen Beschäftigte werden betrogen

Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung: Lohnuntergrenze wirkt trotz Umgehungen dennoch positiv gegen Armut

Eine Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung hat ergeben, dass 2,7 Millionen Beschäftigte in Deutschland den Mindestlohn nicht erhalten. Der gesetzliche Mindestlohn war zum 1. Januar 2015 eingeführt worden. Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, wie die Hans-Böckler-Stiftung schreibt: „In Betrieben mit Betriebsrat und Tarifvertrag wird das Mindestlohngesetz weitaus konsequenter eingehalten als in Firmen, in denen beides fehlt. Umgehungen des Mindestlohns kommen in mitbestimmten und tarifgebundenen Betrieben etwa fünf Mal seltener vor.“

Weiter heißt es in der Pressemitteilung: „Gesamtwirtschaftlich sind Verstöße gegen den Mindestlohn aber weiterhin ein Problem: 2016 bekamen rund 2,7 Millionen Beschäftigte in Deutschland weniger als den Mindestlohn, obwohl er ihnen zustand. Damit erhielten 9,8 Prozent aller Arbeitnehmer, die Anspruch auf den Mindestlohn hatten, weniger als die damals vorgeschriebenen 8,50 Euro pro Stunde. Legale Ausnahmen vom Mindestlohn sind dabei bereits herausgerechnet. Zu diesen Ergebnissen kommt eine neue Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung auf Basis des Sozioökonomischen Panels (SOEP).

Trotz Umgehungen: Deutliche Lohnsteigerungen messbar

Nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ist die Armut unter Beschäftigten im Niedriglohnbereich (unter 10 Euro Stundenlohn) zurückgegangen, zeigen die Berechnungen des WSI-Arbeitsmarktexperten Dr. Toralf Pusch: 2014 hatten noch 20 Prozent von ihnen ein so geringes Einkommen, dass ein – realisierter oder nicht realisierter – Anspruch auf aufstockende Hartz-IV-Leistungen bestand. Bis 2016 sank die Aufstocker-Quote auf 17 Prozent, weil extrem niedrige Stundenlöhne erhöht wurden.“

Die Erwerbsarmut könnte aber noch deutlich stärker reduziert werden, wenn sich alle Arbeitgeber auch an das Mindestlohngesetz halten würden, betont der Forscher Dr. Toralf Pusch: „Die insgesamt sehr positive Bilanz des Mindestlohns wird getrübt, weil nach den neuesten verfügbaren Daten auch mehr als ein Jahr nach der Einführung noch zahlreiche Arbeitgeber gegen das Mindestlohngesetz verstoßen haben. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich das Problem seitdem erledigt hat. Denn nach wie vor ist die Kontrolldichte relativ gering, die zuständige Einheit des Zolls unterbesetzt.“

Die SOEP-Auswertung zeigt auch, welche Unternehmens-internen Faktoren verhindern können, dass Beschäftigte um den Mindestlohn geprellt werden. So können sich Betriebsräte und Tarifbindung positiv auswirken, macht die Analyse deutlich. „In Betrieben mit Arbeitnehmervertretung und Tarifvertrag lag die Quote der Mindestlohn-Umgehungen 2016 bei nur 3,2 Prozent. Fehlte beides, erhielten hingegen 18,6 Prozent der Beschäftigten nicht den Mindestlohn, also mehr als fünfmal so viele. Eine Stärkung von Mitbestimmung und Tarifbindung kann zu faireren Arbeitsbedingungen beitragen“, betont Pusch.

Umfangreichere Kontrollen dringend nötig

Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls hat bei ihren Prüfungen im ersten Halbjahr 2017 in neun Prozent der untersuchten Fälle Verstöße gegen das Mindestlohngesetz festgestellt, die anschließend zu Ermittlungsverfahren führten. Zugleich stieg die Zahl der Prüfeinsätze erstmals wieder an, nachdem sie 2015 und 2016 deutlich gesunken war. „Trotz dieser erfreulichen Entwicklung hat die Zahl der Kontrollen durch die FKS immer noch nicht das Niveau vor der Mindestlohn-Einführung erreicht“, schreibt Pusch.

Da effektive Kontrollen zentral für die Umsetzung des Mindestlohngesetzes seien, empfiehlt der Wissenschaftler, die FKS schnellstmöglich auf 10.000 Planstellen aufzustocken. Aktuell sind es lediglich rund 7.200 und davon sind knapp 800 nicht besetzt. Zudem sei es wichtig, von Arbeitgebern aussagefähige Dokumentationen der Arbeitszeiten zu verlangen. Denn undokumentierte und unbezahlte Mehrarbeit gilt als der meistgenutzte Weg, um Beschäftigte in der Praxis um den Mindestlohn zu bringen. Ohnehin müssten Unternehmen nach dem Arbeitszeitgesetz die Einsatzdauer ihrer Beschäftigten dokumentieren, schreibt Pusch.

Klagen über zusätzliche Bürokratie führten daher in die Irre. Gelegentlich diskutierte Vorschläge für neue Ausnahmen vom Mindestlohn, etwa für Flüchtlinge, lehnt der Forscher ab. „Mit jeder weiteren Ausnahme sinkt die Akzeptanz bei Arbeitnehmern und Unternehmen, deren Wettbewerbsbedingungen schon heute durch die weit verbreitete Praxis der Mindestlohnumgehungen verzerrt werden.“

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