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08.11.2019
IG Metall: Betriebsrätepreis 2019 für Siemens Tübingen

Digitaler Quantensprung: Der Gesamtbetriebsrat der Siemens AG, München, und der Betriebsrat des Siemens-Standortes Tübingen erhielten am 7. November 2019 gemeinsam den „Deutschen Betriebsräte-Preis“ in Gold.

Die beiden ausgezeichneten Projekte gelten als Paradebeispiel für eine aktive Gestaltung und Begleitung des umfassenden strukturellen Wandels und der digitalen Transformation in der deutschen Industrie. Der IG Metall-Vorstand schreibt dazu:

Kampf um Standort als Ausgangspunkt

Mit einer Vielzahl von Maßnahmen verhinderte das Tübinger Gremium eine drohende Schließung und erreichte zugleich, dass der Standort sich zu einem digitalen Vorzeigewerk entwickeln konnte. Die Münchner Kollegen im Gesamtbetriebsrat verhandelten aufbauend darauf einen Zukunftsfonds in Höhe von 100 Millionen Euro für Um- und Weiterqualifizierung der Siemens-Beschäftigten in Deutschland. Beide Projekte gelten als Paradebeispiel für eine aktive Gestaltung und Begleitung des umfassenden strukturellen Wandels und der digitalen Transformation in der deutschen Industrie. Seit 2009 würdigt der Deutsche Betriebsräte-Preis innovative und beispielhafte Leistungen von Betriebsräten in Deutschland. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hielt die Festrede, Jörg Hofmann, Vorsitzender der IG Metall, die Gold-Laudatio.

Als Jörg Hofmann die Gewinner des Hauptpreises in Gold verlas, hielt es Ismaiyl Arslan und Tobias Bäumler nicht mehr auf den Stühlen. Die beiden Betriebsräte jubelten und fielen sich in die Arme. Ohne den Betriebsrat als treibende Kraft wäre bei Siemens Tübingen vieles anders verlaufen. "Ihr als Betriebsrat habt nicht einfach tatenlos zugeschaut, sondern den strukturellen Wandel und die Transformation im Betrieb aktiv mitgestaltet", sagte der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann bei der Preisverleihung. "Und ihr habt gezeigt, dass eine faire Transformation den Menschen in den Mittelpunkt stellen muss. Am Ende siegte Hartnäckigkeit."

Zur Vorgeschichte: Bei Siemens in Tübingen werden Getriebemotoren gefertigt. Sie stecken zum Beispiel in Abfertigungsbändern von vielen Flughäfen. Der Schock für die rund 500 Beschäftigten kam 2017: Die Geschäfte liefen schlecht. Das Management kündigte an, die Montage nach Tschechien zu verlagern. Der Betriebsrat und die IG Metall reagierten sofort mit spontanen Protestaktionen und signalisierte dem Management unmissverständlich: Sie würden den Standort nicht kampflos aufgeben. "Wir wussten von Anfang an, dass die enge Beteiligung der Beschäftigten ganz entscheidend würde“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Arslan.

Mit den "Kollegen" Heiner und Schorsch

Der gelernte Automechaniker fahndete mit den Kollegen im Betriebsratsgremium und der Belegschaft fieberhaft nach Möglichkeiten, um den Standort zu erhalten. In Workshops mit den Beschäftigten wurden Ideen gesammelt, wie man durch den Einsatz von digitaler Technik Kosten einsparen könnte. Binnen kurzem legten die Beschäftigten in Tübingen 80 konkrete Vorschläge auf dem Tisch. Das mögliche Einsparpotential wurde auf mehrere Millionen Euro beziffert. Das beeindruckte das anfänglich skeptische Management. Die Arbeitgeberseite konnte für das Kooperationsprojekt "Arbeit und Innovation" mit der Europäischen Union, dem europäischen Sozialfonds und der IG Metall gewonnen werden.

Heute sind viele Ideen Realität. Siemens Tübingen hat einen qualitativen Sprung ins digitale Zeitalter gemacht. Das fängt schon an in der Ausbildung. Dort lernen junge Siemensianer das Schweißen in einer virtuellen Umgebung. In der Montage werden fahrerlose Transportsysteme eingesetzt, sogenannte FTS. Sie bringen fehlende Teile dorthin, wo sie gebraucht werden. Sie bewegen sich fast lautlos durch die Montagehallen und genießen hohes Ansehen in der Belegschaft, weil sie weite Laufwege überflüssig machen. Weil die Bezeichnung FTS so technisch klingt, haben die Gefährte die Namen "Heiner" und "Schorsch" bekommen. Die digitalen "Kollegen" bewegen sich ferngesteuert und von Sensoren gelenkt.

In der Fertigung zeigt ein Bildschirm in der Halle in Echtzeit, wie die Einlastung und Verfügbarkeit der einzelnen Maschinen ist. Im Service-Bereich wirde Google Glass eingesetzt. Dadurch ist es möglich, auf der ganzen Welt Daten und Anweisungen zu geben, wie ein Getriebemotor repariert, eine Fehlersuche durchgeführt und Teile ausgetauscht werden können. In den Büros wurden durch den Einsatz von Algorithmen und in der Montage durch den Einsatz von Robotik monotone, immer wiederkehrende Prozesse abgeschafft.

An vielen anderen Stellen wird digitale Technik eingesetzt – immer in enger Abstimmung mit dem Betriebsrat. Flankiert wird der Kulturwandel bei Siemens Tübingen durch ein Qualifizierungskonzept für die Beschäftigten, damit sie mit der Digitalisierung Schritt halten können. So werden Maschinenbediener geschult, dass sie die Programmierung der Anlagen verstehen und in der Lage sind, selbst Änderungsvorschläge zur Optimierung zu machen. 80 Prozent der Beschäftigten werden jetzt qualifiziert.

Mut zum Experiment

Möglich gemacht wurde das durch den Zukunftsfonds für Digitalisierung, den der Gesamtbetriebsrat mit dem Konzern ausgehandelt hat und der mit 100 Millionen Euro für vier Jahre ausgestattet ist. Über eine Million wurde für zur Qualifizierung der Beschäftigten in Tübingen bereitgestellt. "Der Zukunftsfonds bedeutet für alle Beteiligten Neuland", sagt Tobias Bäumler, Mitglied im Gesamtbetriebsrat von Siemens, auf der Preisverleihung. "Er erfordert Mut, Dinge einfach mal zu machen und zu experimentieren. Und ganz wichtig, alle Kolleginnen und Kollegen sollen im Veränderungsprozess mitgenommen werden. Denn der Strukturwandel wird nicht in den Elfenbeintürmen der Konzernzentralen gestaltet, sondern an der Basis."

Wenn man Ismayil Arslan fragt, was der Einsatz der letzten zwei Jahre gebracht hat, spürt man große Erleichterung. "Die Drohung, den Standort zu verlagern, ist vom Tisch. Das ist das Ergebnis einer super Teamarbeit im Betriebsrat." Der Kampf war zeitintensiv und hat viel Kraft gekostet. Ihn zu gewinnen war ihm so wichtig, dass Arslan sein Mandat im Tübinger Stadtrat aufgab, um sich ganz auf seine Mission im Betrieb konzentrieren zu können. Er ist überzeugt: "Die digitale Wende ist bei uns eingestielt und kann nicht mehr zurückgedreht werden." Siemens Tübingen ist auf gutem Weg, zum digitalen Vorzeigemodell im Siemens-Konzern zu werden.

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